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"Ein Gespräch kann helfen, die Gedanken zu sortieren"
Interview mit Hans Iberl über die Arbeit als Telefonseelsorger
In der Corona-Zeit rufen mehr Menschen bei Telefonseelsorgen an. Oft brauchen die Anrufer nur ein offenes Ohr, jemanden, der ihnen zuhört. Wenn man die Nummer der Telefonseelsorge Ingolstadt wählt, landet man beim Team von Hans Iberl. Der 56-Jährige leitet seit drei Jahren die Telefonseelsorge Ingolstadt. Mit espresso spricht er über seine Arbeit, die tagtäglich Menschen in Not hilft.
Herr Iberl, was war Ihre Motivation, sich bei der Telefonseelsorge zu engagieren?
Die TelefonSeelsorge ist ein niedrigschwelliges Angebot für alle Menschen, die in Krisen, Nöten, Ängsten stehen und jemanden zum Reden brauchen. Mir ist eine christliche Motivation wichtig, für Menschen am Rand, für Menschen, die sonst niemanden haben, da zu sein.
Angenommen, ich möchte Telefonseelsorger werden: Wie lange dauert die Ausbildung und welche Fähigkeiten eigne ich mir in dieser Zeit an?
Zunächst freuen wir uns über alle, die Interesse an einer ehrenamtlichen Mitarbeit bei der TS haben. Nach einer Bewerbung für die Mitarbeit führen wir ein Gespräch mit den Interessierten, um sie kennenzulernen. Falls sie geeignet sind und die wechselseitigen Erwartungen und Grenzen abgeklärt sind, beginnt die Ausbildung in einer Gruppe von zehn bis vierzehn Leuten. Die Ausbildung dauert etwa ein Jahr und die Inhalte sind Selbstreflexion und Selbsterfahrung, Gesprächsführung und Themen, die häufig am Telefon angesprochen werden, wie z.B. Trauer, Depression, Sucht, Suizidalität, psychische Erkrankungen oder Ängste.
Welche Eigenschaften sollte man idealerweise mitbringen, um Telefonseelsorger*in werden zu können?
Künftige Seelsorger*innen sollten eine stabile Persönlichkeit sein, Lebenserfahrung und Offenheit für die Menschen haben.
Telefonseelsorger*innen müssen gut zuhören können. Wie geht gutes Zuhören richtig?
Ich konzentriere mich auf das, was der*die Anrufer*in sagt, mache nichts nebenher, frage nach, ob ich dies oder das richtig verstanden habe, achte auf die Zwischentöne und Gefühle und erkundige mich danach.
Mit welchen Anliegen rufen die Menschen bei Ihnen an?
Unsere Ratsuchenden haben viele Themen, die sie gerne in einem Gespräch äußern möchten, denn Probleme und Krisen können uns in jeder Lebensphase treffen. Probleme mit der Partnerin oder dem Partner, Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz, Arbeitsplatzverlust, Sucht, Krankheit, Einsamkeit, Sinnkrisen, spirituelle Fragen oder Suizidalität; solche Ereignisse und Verletzungen bringen uns Menschen oft an unsere Grenzen.
Wie können Sie den Anrufer*innen helfen?
Ein Gespräch kann helfen, die Gedanken zu sortieren, neue Wege zu erkennen oder es ermöglicht, sich die Sorgen einfach mal von der Seele zu reden. Dafür ist die TelefonSeelsorge da. Einfach anrufen genügt.
Wie hat sich Ihr Blick auf die Welt durch Ihre Arbeit bei der Telefonseelsorge verändert?
Ich sehe mehr das Leid, das es auch in unserer Gesellschaft gibt, das man leider oft übersieht. Es gibt viele Menschen, die unheimlich viel ertragen müssen, Ängste haben, in Einsamkeit leben. Man wird dankbarer dafür, dass es einem selbst so gut geht, trotz aller eigenen Krisen, die jeder Mensch im Leben durchmacht. Und man wird sensibler in Gesprächen, auch im Freundes- und Familienkreis. Sensibler auch für Nöte, die man davor nicht gesehen hat.
Sie hören viel menschliches Leid. Wie bewältigen Sie das?
Manche Gespräche sind tatsächlich belastend. Helfen kann hier oft ein kurzes Gespräch mit der/dem Nachfolger/-in oder die Supervision, die einmal monatlich für alle verbindlich stattfindet. Nach ganz schwierigen Gesprächen bieten die Hauptamtlichen Leiter ebenfalls Gespräche zur Entlastung an.
Wie gehen Sie damit um, wenn jemand droht, sich umzubringen?
Reden hilft! Wenn der Aufbau einer personalen Beziehung gelingt, kann dies ein entscheidender Schritt sein, jemanden aus der suizidalen Dynamik zu befreien. Die TelefonSeelsorge bietet ein offenes Ohr, also Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für Gefährdete. Hingewiesen wird von uns oft auch auf professionelle Hilfseinrichtungen.
Wie gehen Sie mit Anrufer*innen um, die eine ganz andere Meinung als Sie selbst vertreten?
Jede*r wird wertgeschätzt und mitfühlend im Gespräch begleitet. Auf politische oder weltanschauliche Gespräche lassen wir uns nicht ein, wir versuchen auf die Stimmungen und Gefühle der Anrufenden einzugehen. Woher kommen eventuell die Ängste oder die Wut, es kann im Gespräch nicht darum gehen, z.B. einen Corona-Leugner von seiner Meinung abzubringen. Ich kann aber natürlich auch meine Meinung dazu sagen.
Die Pandemie stellt viele Menschen vor eine große Herausforderung. Laut einer Studie ist die Zahl der Anrufe bei der Telefonseelsorge um 25 Prozent gestiegen. Haben auch Sie in Ingolstadt ein größeres Bedürfnis nach Aussprache bemerkt?
Vom November 2019 bis Oktober 2020 ergaben sich in Ingolstadt bei 12.244 Anrufen 10.895 Seelsorge- und Beratungsgespräche. Die durchschnittliche Dauer eines Gesprächs ist bei etwa 30 Minuten. Im Vergleich zum letzten Vergleichszeitraum hat sich die Zahl der Gespräche um etwa 1200 erhöht. Im März und April war das Thema „Corona“ mit etwa 25 bis 30 % an erster Stelle. Von März bis Mai ist eine leichte Erhöhung der Anrufe festzustellen. Wir bieten in Ingolstadt auch Chat-Seelsorge an, hier hat sich die Anzahl der Chats im April und Mai 2020 mehr als verdoppelt. Festzustellen ist, dass die Nachfrage sowohl am Telefon als auch im Chat größer ist als das Angebot.
Was beschäftigt die Menschen aktuell?
Häufig verbunden mit dem Thema Corona waren Gespräche zu den Themen Ängste, Einsamkeit, körperliches Befinden und depressive Stimmung. Bei vielen wurde durch Corona die jeweilige Befindlichkeit noch verstärkt.
Weihnachten steht vor der Tür. Für viele ist es die schönste Zeit des Jahres, für einige aber auch die einsamste Zeit. Sind Sie auch über die Weihnachtsfeiertage erreichbar? Welche Menschen rufen in dieser Zeit bei Ihnen an?
Die TelefonSeelsorge ist auch über die Weihnachtsfeiertage erreichbar, wir sind rund um die Uhr besetzt. Besonders einsame Menschen haben hier die Möglichkeit mit jemanden zu sprechen. Für manche ist Weihnachten die Zeit der Erinnerung an kürzlich verstorbene Angehörige, die letztes Jahr noch mit Weihnachten feiern konnten. Diese können durch ein Gespräch mit uns ihren Schmerz lindern. Manche wollen einfach nur ein gemeinsames Gebet.
Wenn Sie Interesse an einer ehrenamtlichen Mitarbeit bei der Telefonseelsorge Ingolstadt haben, dann melden Sie sich ganz unkompliziert unter der Nummer 0841/91 00 01. Ein offenes Ohr finden Sie unter den Nummern: 0800/111 0 111, 0800/111 0 222 oder 116 123.