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„In der Rolle der Hausfrau bin ich nicht aufgegangen“
In den meisten Familien ist die Antwort auf die Frage, wer nach einer Schwangerschaft zuhause beim Kind bleibt, völlig klar: Mama ist die Kinderbespaßerin, Erzieherin und kümmert sich um den Haushalt, während Papa die Rolle des Zahlmeisters und Versorgers einnimmt, der das Geld nach Hause bringt und damit die Existenz der Familie sichert. Familie Kretschmer aus Ingolstadt geht die Dinge anders an. Philipp ist mittlerweile schon seit einem Jahr in Elternzeit, weit weg vom Job und in engstem Kontakt mit den Kindern. Jasmina hat gleich nach der Geburt des zweiten Kindes in ihrer Praxis weitergearbeitet. Im Interview sprechen die beiden darüber, warum sie sich für diesen Weg entschieden haben, mit welchen Vorurteilen sie sich konfrontiert sehen und wie sich ihr Leben dadurch verändert hat.
ESPRESSO: Philipp und Jasmina, in den meisten Familien ist es immer noch so, dass die Frau in Elternzeit geht, während der Mann Karriere macht. Bei euch ist es genau andersherum. Wieso habt ihr euch für diese Konstellation entschieden?
JASMINA: Beim ersten Kind musste ich aufgrund des Beschäftigungsverbots während der Schwangerschaft und danach zu Hause bleiben. Insgesamt waren es ca. 18 Monate und das hat mir gar nicht gefallen. Es hat mir der berufliche Ausgleich gefehlt, der Austausch mit Kollegen und Erwachsenen ohne Kinderthemen. In der Rolle der Hausfrau bin ich nicht aufgegangen. Die intensive Zeit mit meinem Sohn habe ich genossen, aber mir war das zu eintönig. Als ich mich dann 2019 selbstständig gemacht habe, war mir klar, dass bei einem zweiten Kind Philipp die meiste Zeit zuhause bleiben soll und ich zeitnah zurück in die Arbeit gehe.
PHILIPP: Bei meinem ersten Sohn habe ich vier Monate Elternzeit genommen, diese Zeit war sehr intensiv und hat mir eine richtig gute Bindung zu meinem Sohn ermöglicht. Außerhalb der Elternzeit habe ich die Entwicklung meines Sohnes leider nur am Rande mitbekommen. Dadurch war für mich klar, dass ich beim zweiten Kind mehr in die Erziehung investieren und an der Entwicklung teilhaben wollte.
ESPRESSO: Wie hat euer Umfeld anfangs darauf reagiert, dass Philipp so lange in Elternzeit gehen wollte?
JASMINA: Meine Eltern konnten sich das gar nicht vorstellen. Immer wieder kamen Zwischenfragen wie „Klappt das mit der Arbeit vom Philipp wirklich?“ Oder Vorschläge wie „Am Anfang kannst du das Baby ja mit in die Arbeit nehmen“ . Erst als die Situation dann eingetroffen ist, haben sie erkannt, dass es wirklich möglich ist. Mittlerweile finden sie unsere Lösung sogar sehr gut. Vieler meiner Patienten fanden es sehr ungewöhnlich, keiner ist auf die Idee gekommen, dass mein Mann zuhause bleiben kann. Viele fragten „Ist die Oma zu Hause?“ oder „Wie machen Sie das überhaupt?“, aber als ich ihnen die Situation erklärte, fanden das alle eine gute und moderne Lösung. Einige ältere sagten tatsächlich „Schade, dass es bei uns so etwas noch nicht gab.“
PHILIPP: Mein nächstes Umfeld hat sich für mich gefreut. Die meisten hätten sich selbst aber eher nicht getraut, so lange Elternzeit zu nehmen. Mittlerweile mehren sich die Rückmeldungen, dass es für viele Vorbildcharakter hatte, und sie auch eine längere Elternzeit planen. Auf Arbeit waren die Rückmeldungen eher gemischt. Von Freude und Unterstützung bis Unverständnis war alles dabei. Je mehr die Kollegen bzw. Chefs selbst ein tradiertes Rollenbild leben, desto weniger konnten sie sich vorstellen, dass es auch anders geht.
ESPRESSO: Philipp, gab es für dich Hürden bei dem Vorhaben, in Elternzeit zu gehen?
PHILIPP: An sich nein. Zumindest keine „echten“. Mann muss sich schon klar darüber sein, dass man es ganz anders als der Mainstream macht und dass dadurch komische Fragen und Äußerungen kommen. Zum einen, weil manche nicht verstehen, wie das klappen kann. Oder weil es ihr Weltbild auf den Kopf stellt, in dem die Mutter zum Kind gehört und der Mann auf Arbeit. Ich hatte mich auch darauf eingestellt, dass sich meine Kontakte jetzt erstmal von einem eher männlichen Freundeskreis Richtung ich quatsche jetzt dann wohl eher vermehrt mit Mamis verschieben würde. Daher war mir das egal. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass das für einige Männer unangenehm sein kann. Finanziell konnten wir ja planen, wann das Kind kommt und haben dadurch entsprechend Geld zur Seite gelegt für diese Zeit. Das hat sich als dringend notwendig erwiesen, gerade in der ersten Corona-Lockdown-Phase, die für Selbständige wie meine Frau sehr problematisch war.
„Viele Väter wissen oft leider gar nicht, welch grandiose Zeit sie mit den Kids verpassen.“
ESPRESSO: Fühlst du dich von der Gesellschaft als Mann in der Erzieherrolle respektiert oder hast du mit Vorurteilen zu kämpfen?
PHILIPP: Über diese Frage habe ich oft nachgedacht. Ich würde sagen, dass ich mich im Großen und Ganzen in der Erzieherrolle respektiert fühle. In den allermeisten Fällen bin ich am Spielplatz, beim Einkaufen oder ähnlichen Situationen freundlich aufgenommen worden. „Cool, dass du das machst“, habe ich oft zu hören bekommen. Allerdings oft gefolgt von einem „bei uns würde das nicht gehen..“, oder „Mein Mann kann dies nicht oder das nicht“, „die kleine schläft bei ihm gar nicht.“ Ich habe mich deshalb oft gefragt: Warum sollte es nur bei mir gehen und bei den anderen Vätern nicht? Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass oft den Vätern nicht vertraut wird, dass sie es hinbekommen oder dass die Art und Weise, wie die Väter es tun, der Mami einfach nicht gefällt. Daher heißt es dann einfach, er könne es nicht. Da meine Frau mir vertraut und mich es auf meine Art machen lässt, habe ich hier nie belehrende Kommentare oder ähnliches erlebt. Durch die Zeit alleine mit dem zweiten Sohn konnte ich meinen Weg ausprobieren und dadurch finden. Genau wie jede Mama das mit ihrem Kind auch tun muss.
Vorurteile gibt es genug. Ich bin anfangs im Supermarkt nicht bedient worden, weil die Verkäufer*innen davon ausgingen, ich würde nur den Wagen für die Frau vor mir schieben. Und bei der Kita musste ich vier Mal nachfragen, bis ich endlich in den Verteiler aufgenommen wurde. Aber da muss man drüberstehen. Ich würde die Entscheidung wieder so treffen und dies auch jedem anderen Vater raten. Die Zeit zuhause mit seinem Kind kommt nicht zurück. Viele Väter wissen oft leider gar nicht, welch grandiose Zeit sie mit den Kids verpassen.
ESPRESSO: Kam bei dir auch mal die Angst auf, wegen der Auszeit könnten später im Beruf Nachteile auf dich zukommen?
PHILIPP: Ich bin nicht der ängstliche Typ. Mir war aber sehr wohl bewusst, dass es ziemlich sicher Folgen für meinen Weg haben wird. Auch weil es in der Hierarchie wenige Männer mit längerer Auszeit vom Job gibt, sondern meist die Frau daheim bei den Kindern die Karriere des Mannes ermöglicht hat. Dadurch gibt es keine Vorstellungskraft, dass man durchaus beides gut, mit hoher Motivation und exzellenten Ergebnissen unter einen Hut bringen kann.
Auch wenn ich beruflich Einbußen hinnehmen muss, bereue ich meine Entscheidung deswegen aber in keinem Fall, denn es muss immer ein guter Mittelweg zwischen Privatem und Beruflichem vorliegen, um ein zufriedener Mensch zu sein.
ESPRESSO: Wie wird es nach deiner Elternzeit weitergehen? Kannst du dir jetzt überhaupt noch vorstellen, wieder in Vollzeit arbeiten zu gehen?
PHILIPP: Nach den zehn Monaten Elternzeit freue ich mich jetzt schon, meine Energie und mein Wissen nach den vollen 14 Monaten wieder auf Arbeit einbringen zu können. Nachdem ich mich die ersten Monate daheim in steiler Lernkurve befand, flacht diese irgendwann ab und man wendet das neue Erziehungswissen „nur“ noch an. Die Erlebnisse und Gefühle, die man einsammelt, sind unbeschreiblich schön und stärken einen ungemein, aber irgendwann, wenn die Routine einsetzt, fehlt etwas. Ich möchte einfach jeden Tag etwas dazulernen und bewegen. Ich kann mir Vollzeit wieder vorstellen, möchte aber auf jeden Fall die Erziehungsarbeit fair mit meiner Frau aufteilen. Daher werde ich wohl anfangs mit reduzierter Arbeitszeit wieder einsteigen. So kann das Zusammenleben mit meiner Frau und den Kinder auf Augenhöhe gestaltet werden.
„Durch die Elternzeit ist Philipp viel entspannter geworden.“
ESPRESSO: Was war und ist für dich das Schönste an der Zeit zuhause mit den Kindern?
PHILIPP: So unzählig viele unbeschreiblich traumhaft schöne Momente mit meinen Kindern gehabt zu haben, an die ich mein Leben lang zurückdenken werde. Und alles richtig gemacht zu haben mit der Entscheidung, daheim bei den Kindern geblieben zu sein. Selbst das ansonsten so trübe Corona-Thema, das allen, ganz besonders Eltern, viel abverlangt hat, kann das nicht trüben.
ESPRESSO: Kindererziehung kann auch ganz schön stressig sein. Gab es mal Momente, in denen du dir gewünscht hast, lieber im Büro zu sitzen?
PHILIPP: Wenn ich ehrlich bin, nein. Klar, es ist als Hausmann und mit den Kids stressig, aber hier habe ich keinen Druck wie auf Arbeit. Was passiert denn, wenn ich es heute mal nicht schaffe zum Einkaufen, weil sich gerade Kind eins mit dem Messer geschnitten hat? Nichts, es gibt halt zur Not nur Nudeln mit Ketchup oder Reis aus dem Vorratsschrank. Wenn ich auf Arbeit Termine nicht halten kann, wäre das schon schlimmer, denn dort hängen viel mehr Menschen von meiner Arbeit ab.
ESPRESSO: Wie hast du dich in der Elternzeit abseits vom Job persönlich weiterentwickelt bzw. verändert?
PHILIPP: Ich interessiere mich viel mehr für Chancengleichheit als vorher. Erwachsene geben Kindern viele vorgefertigte Rollen und Einstellungen mit, die es den nachfolgenden Generationen schwer machen auszubrechen. Es gibt für viele nur ihr Modell oder keines. Andere Herangehensweisen werden oft verurteilt. Ich finde das schlimm und versuche hier aufzuklären und zu ermuntern, dass jeder das für sich passende Modell wählt und findet. Außerdem habe ich für mich Social Media entdeckt, um etwas von den Erfahrungen zu berichten und andere zu ermuntern, dass es auch anders geht. Was aber nicht heißt, dass meine Welt rosarot ist. (lacht)
ESPRESSO: Jasmina, hast du deinen Mann durch die neue Rollenverteilung neu kennengelernt?
JASMINA: Ich habe nie gezweifelt, dass diese Konstellation gut sein wird. Mir war schon immer klar, dass Philipp ein guter Vater ist. Durch die Elternzeit ist er aber viel entspannter geworden. Im normalen Arbeitsalltag war seine Zündschnur schon recht kurz und es gab dann oft Streit. Nachdem der Druck jetzt raus ist, haben wir ein viel harmonischeres Familienleben. Durch die neue Rollenverteilung hat jeder von uns einen Perspektivwechsel und das finde ich super, um den anderen besser zu verstehen. Folgende Situation zeigt das ganz schön: Bei meinem ersten Sohn fand ich es super nervig, wenn Philipp nach der Arbeit erst „seine Ruhe“ haben wollte während ich schon voll gestresst mit Kochen, Kind auf dem Arm etc. war und mir einfach nur gewünscht hätte, er würde mir den Knirps einfach mal abnehmen, denn er war ja den ganzen Tag „kinderfrei“. Jetzt erlebe ich die Situation komplett anders, ich komme heim und Philipp wünscht sich, dass ich kurz die Kinder übernehme, da er sie ja schon den ganzen Tag hat. Dafür haben wir noch keine konkrete Lösung, aber ich fand es spannend, zu merken, wie es sich aus Sicht des anderen Parts anfühlt.
„Traut euch das Vollzeit-Papa-Dasein zu, ihr bekommt das auf alle Fälle hin!“
@adadlifeinpictures
ESPRESSO: Jasmina, wie hast du das Jahr erlebt? Hättest du gerne mehr Zeit mit den Kindern verbracht oder war es so, wie es gelaufen ist, genau richtig für dich?
JASMINA: Für mich hat es sich gut angefühlt. Klar, die ersten Lebensmonate waren hart. Nach vier Wochen bin ich in reduzierter Zeit zurück in die Praxis und habe die Arbeitszeit langsam bis zum sechsten Lebensmonat erhöht. Ich habe komplett gestillt und war und bin in jeder Minute abseits der Praxis mit den Kids zusammen. Das Gefühl, etwas zu verpassen, habe ich deshalb nicht. Ich freue mich eher richtig, die Zeit mit den Kids verbringen zu können. Durch die Selbstständigkeit kann ich auch meine Praxiszeiten selbst gestalten und habe zwei frei Nachmittage für die Kinder. Im Großen und Ganzen fühlt es sich genau richtig an. Es macht mir Spaß, voll in der Arbeit aufzugehen und dann auch wieder mit den Kindern komplett abschalten zu können. Was ich allerdings unterschätzt habe, ist die ganze zusätzliche Arbeit, die im Hintergrund stattfindet. Sei es Buchhaltung, Marketing, Führung oder fachliche Weiterbildungen, das findet alles oft abends nach 22 Uhr statt oder am Wochenende. Meine Spezialisierung zur Sportzahnärztin lief über mehrere Wochenenden, das fanden die Kinder nicht so toll und diese Zeit versucht man dann wieder nachzuholen. Und was man dabei nicht vergessen darf: Zeit für einen selber. Das gibt es momentan echt wenig. Was ja viele Eltern von Kleinkindern kennen.
ESPRESSO: Zum Schluss die große Frage: würdet ihr es beim nächsten Kind noch einmal genau so machen?
PHILIPP: Das meiste, ja. Ich würde auf alle Fälle auch beim nächsten Kind einen großen Teil Elternzeit nehmen, aber noch mehr überlegen, wie meine Frau mehr beim Baby sein kann. Dieses Mal musste sie ja bis zum Tag des Geburtsbeginns auf Arbeit. Aufgrund ihrer neu gegründeten Zahnarztpraxis war es ihr danach leider nicht möglich, länger als vier Wochen nach der Geburt voll beim Kind zu bleiben. Was ich schade für sie finde.
JASMINA: Vieles werden wir wieder so machen. Klar, die Start-up-Phase hat einfach viele zusätzliche Herausforderungen, die wir bei einem dritten Kind dann wohl nicht mehr hätten. Dieses „Experiment“ hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, auf seine Familien-Bedürfnisse zu hören und diese in die Tat umzusetzen.
Jasmina und Philipp, vielen Dank für diese spannenden Einblicke und alles Gute für die Zukunft.
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