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Abenteuer Afrika

Text: Sabine Kaczynski | Fotos: Thabit Radjabu

Kevin und Toby Schmutzlers „Nawi“ ist der erste Film, der jemals in Turkana gedreht wurde

„Ich check den Boden schnell auf Schlangen und Skorpione, bevor wir anfangen“, sagt Kevin Schmutzler, der erst einen Hügel erklimmen muss, auf dem er besseres Netz vermutet. Trotzdem braucht es einige Versuche, bis die Verbindung steht und er gemeinsam mit seinem Bruder Toby von ihrem neuesten Projekt „Nawi“ erzählen kann. Denn die Ingolstädter Regisseure befinden sich mit ihrer Filmcrew für den Dreh so ziemlich mitten im Nichts.

Das Nichts liegt in der nordkenianischen Wüste, im Turkana-Gebiet, einem riesigen, aber sehr dünn besiedelten Areal, ohne Strom, ohne Wasser – es fehlt jegliche Infrastruktur. Bislang kam deshalb noch niemand auf die Idee, ausgerechnet in diesem Niemandsland einen Film zu drehen – diesbezüglich sind die Schmutzler-Brüder also echte Pioniere in Turkana. Eine Ingolstädter Weltpremiere!

Und wie sind die beiden gerade auf dieses Fleckchen Erde gestoßen? Die Antwort liegt bei keinem Geringeren als Ludwig Prinz von Bayern: Er ist nämlich der Gründer des Non-Profit-Unternehmens „Learning Lions“, das genau an dieser Stelle einen Campus für rund 500 Studenten aufgebaut hat und dort die jungen Menschen in digitalem Arbeiten, etwa Programmieren, Webdesign oder Videografie ausbildet. Sein Herzenswunsch war schon immer, auch einen Filmkurs im Curriculum aufzunehmen. So ist die Zusammenarbeit mit Toby und Kevin entstanden und „Nawi“ wurde zum Bildungsprojekt, bei dem die Studierenden in die Produktion des Streifens mit einbezogen werden.

Der Plan ist nämlich, sämtliche Departments, vom Drehbuch über Kamera bis zu den Darstellern nicht nur mit den Profis rund um die Schmutzler-Crew, sondern zusätzlich mit den „Learning Lions“ zu besetzen. Von Beginn an stand beim Projekt „Nawi“ für Kevin und Toby zudem Authentizität in Bezug auf die Kultur der Turkana People an oberster Stelle. So wurde bereits die Story im letzten Jahr mittels eines Schreibwettbewerbs unter den Locals ermittelt, den Milcah Cherotich – im „wahren Leben“ eigentlich Fremdenführerin – gewann. Ihre Vorlage handelt von einer „forced marriage“, also einer arrangierten Ehe, und ist von der wahren Geschichte ihrer Schwester inspiriert.

Im vergangenen Sommer waren die Schmutzler-Brüder schon einmal für einige Wochen in Kenia und brachten die Story gemeinsam mit der Autorin und Studierenden der Learning Lions in Drehbuchform. Erzählt wird darin nun die Geschichte des Mädchens „Nawi“, das mit einem wesentlich älteren Mann verheiratet werden soll, darauf jedoch überhaupt keine Lust hat und von ihrem ähnlich denkenden Bruder Unterstützung erhält.

Bevor die beiden Regisseure jedoch mit dem eigentlichen Shooting loslegen konnten, mussten sie erst einmal geeignete Darsteller finden, die in die vorgesehenen Rollen schlüpfen konnten. Kein leichtes Unterfangen, wie die beiden Ingolstädter schnell erkennen mussten: „In Kenia gibt es keine Castingstruktur wie wir sie in Europa kennen. Alles läuft über Social Media und Mundpropaganda“, beschreibt Kevin.

Nach diversen Recalls stand die Besetzung schließlich – und zu Drehbeginn wartete sogar eine dicke Überraschung auf die beiden Schmutzlers: „Die meisten Schauspieler, die wir ausgewählt haben, sind in Kenia aus heimischen Serien bekannt. Davon hatten wir keine Ahnung. Ohne es zu wissen, haben wir rund um unsere Hauptdarsteller einen richtig guten und erfahrenen Cast bekommen“, freut sich Kevin, der die beiden Kinder-Hauptrollen – das Mädchen, das verheiratet werden soll und ihren Film-Bruder – unbedingt mit Kids aus der Region besetzen wollte. „Dafür sind wir von Schule zu Schule getingelt und haben wochenlang Kinder vorsprechen lassen. Ein Schauspielcoach hat dann eine engere Auswahl trainiert, bis die beiden sich herauskristallisierten“, beschreibt Toby die langwierige Suche nach den beiden Kids.

„Durchgesetzt haben sich schließlich Michelle Lemuya, die zu Beginn der Dreharbeiten erst zwölf, inzwischen 13 Jahre alt ist und Joel Liwan, der angibt, 14 Jahre alt zu sein – ich glaube aber, er ist erst elf“, vermutet Kevin. „Michelle ist nicht nur unglaublich talentiert, sondern auch superintelligent. Sie besucht die achte Klasse – in Kenia die Übertrittsklasse – und muss daher neben dem Dreh lernen und samstags Prüfungen schreiben. Trotz der Doppelbelastung ist sie regelmäßig die Klassenbeste“, schwärmt Kevin von dem Mädchen und lobt gleichzeitig ihre Ausdrucksstärke und Lernfähigkeit.

Auch Toby ist von den beiden Kindern, die zum ersten Mal in ihrem Leben vor der Kamera stehen, begeistert. Die restliche Crew rekrutierten Toby und Kevin aus den „Learning Lions“, die sich in Windeseile – mehr als einige Workshops gab es nicht – mit der Technik und Arbeitsweise eines hochprofessionellen Filmteams vertraut machen musste. Denn die beiden Regisseure betonen, dass trotz der Mitarbeit der Studierenden ein Top-Produkt auf höchstem Niveau entstehen soll, das später auf den Filmfestivals konkurrenzfähig ist. „Wider Erwarten haben die Learning Lions das wirklich super hingekriegt“, freuen sich die Schmutzler-Brüder.

Und wo lebt man während mehrmonatiger Dreharbeiten in einem Gebiet ohne jegliche Infrastuktur? „Eine Unterkunft ohne die Learning Lions wäre überhaupt nicht möglich gewesen. Unser komplettes Drehteam wohnt am Campus, das sich nördlich von Lodwar, unweit des Turkana Sees befindet“, erzählt Toby. „Wir sind in einfachen Häusern untergebracht, die teilweise erst am Tag unserer Ankunft fertiggestellt wurden und brandneu sind. Manche Crewmitglieder mussten sogar von einem halbfertigen Haus nochmal in ein fertiges Haus umziehen. Strom und Wasser funktionieren zumindest meistens“, beschreibt Toby die Unterkünfte, die sich jeweils zwei bis sechs Personen – Deutsche und Locals gemischt – teilen. Direkt neben dem Campus wurde in einem großen Set das Dorf, in dem der Film spielt, aufgebaut.

Man sieht Stroh- und Blechhütten, wie sie bei den Turkana People üblich sind, umgeben von einem großen Zaun, hinter dem sich viele Ziegen befinden: „Die sind hier eine Art Währung“, erklärt Kevin. „Zehn Ziegen oder ein Kamel sind soviel wert wie ein Motorrad. Wenn hier also jemand zwanzig Kamele und einige hundert Ziegen besitzt, ist er nach europäischen Maßstäben stinkreich“, schmunzelt er. „Das ist hier durchaus eine Geldanlagequelle.“ Der größte Vorteil des unmittelbar am Campus befindlichen Drehorts ist zweifelsohne das Wegfallen eines weiten Anfahrtswegs „Außerdem können so die meisten Szenen in einem halbwegs kontrollierten Rahmen gedreht werden“, erläutert Toby.

Doch trotz der nahen Location und der beeindruckenden Leistung, die Darsteller und Crew abliefern – ein Kinderspiel sind die Dreharbeiten keineswegs. Ganz im Gegenteil. Schon eher Abenteuer pur. Denn die Herausforderungen, die täglich auf die Filmcrew warten, haben ein ganz eigenes Kaliber, auf das westliche Europäer so ganz und gar nicht vorbereitet sind: „Wir haben hier bereits mit Lebensmittelvergiftungen bei Schauspielern, Giftschlangen, Skorpionen oder Kamelen, die nach der Kamera treten, zu kämpfen gehabt“, berichtet Kevin und nennt die unglaubliche Hitze in der Wüste als weiteres Problem: „Du kannst dich nicht schnell bewegen, hier herrschen Temperaturen von zum Teil über 40 Grad. Es brennt runter wie nichts. Unsere Haut ist seit Wochen am Limit – und unseren Kameras macht die Hitze genauso zu schaffen“, beschreibt Kevin.

Deshalb stehen die Schmutzlers und ihre Crew täglich bereits um 5:30 Uhr auf – nicht nur, um das schöne Licht, das dann herrscht, einzufangen, sondern vor allem, um die kühlen Morgenstunden zu nutzen und der Mörderhitze zu entgehen. „Dadurch werden die Drehtage natürlich lang – und wir müssen einen echten Marathon bewältigen“, sagt Toby.

Zeit ist sowieso Mangelware bei dem Projekt. Denn so sehr sich die Studierenden auch bemühen, komplett mithalten können sie mit den Profis aus Deutschland natürlich nicht, so dass die Dreharbeiten langsamer als üblich vorankommen. Obendrein müsse man ständig improvisieren, so die beiden Ingolstädter: „Wir hatten bereits unzählige zeitliche Verzögerungen wegen diverser geplatzter Reifen, weil der Wind in der Nacht irgendwelche Utensilien weggeblasen hat oder es Probleme mit den Ziegen oder Kamelen gibt“, zählt Kevin auf.

Auch die Wasserversorgung gestaltet sich schwierig: „Wir drehen mitten in der Wüste, so dass wir Unmengen an Flüssigkeit benötigen“, beschreibt Toby. Fünf bis sechs Liter Wasser brauche man bei Temperaturen von über 40 Grad und wenig Schatten. „Bei den 30 Personen, aus denen unser Team besteht, bedeutet das täglich 100 bis 200 Liter Wasser, das zudem nicht wirklich kühl ist.“ Nicht minder bescheiden ist auch die kulinarische Auswahl auf den Tellern: „Es gibt jeden Mittag Reis mit Linsen und abends Reis mit Kartoffeln – und das seit Wochen“, schmunzelt Kevin.

Einmal wurde es für die beiden Schmutzler-Brüder sogar richtig gefährlich: Sie wollten eine Location für den Film besichtigen, eine Insel im Turkana-See, auf der nur Männer und junge Kinder leben, die Fischfang betreiben. Die Gruppe fuhr mit einem kleinen Motorboot der Learning Lions Richtung Insel und bemerkte mitten in dem riesigen Gewässer, dass der Sprit ausgeht. Mit dem letzten Tropfen Benzin erreichten sie die rettende Küste – allerdings war die nächste Tankstelle rund 90 Minuten mit dem Auto entfernt. Was tun? „Wir haben unsere Leute am Campus angerufen, die für uns Benzin geholt haben und dann das Seeufer abgefahren sind, bis sie uns gefunden haben. Wir haben fast den ganzen Tag vertrödelt und uns obendrein zwei Skorpionbisse eingehandelt“, blickt Kevin zurück.

Doch das war noch nicht alles: „Wir mussten trotzdem noch auf die Insel, weil alle anderen Tage bereits verplant waren. Wir fuhren also bei hereinbrechender Dämmerung nochmal los, um die Insel und die dortigen Gegebenheiten zu inspizieren“, erzählen die Brüder. Die Zeit verflog. Die Sonne ging unter, Dunkelheit brach herein. „Also mussten wir bei Nacht

„Trotzdem war der Besuch auf der Insel auch unglaublich cool, gerade durch den sehr engen kulturellen Austausch, den wir so noch nie hatten.“ Wie Kevin beschreibt, haben die Menschen auf dieser Insel unfassbar viel Fisch und bekommen häufig den Rat, damit ein Business in Nairobi aufzumachen, um eine Menge Geld zu verdienen. Doch die Insulaner legen einen ganz anderen Lifestyle an den Tag: „Wir haben hier alles, was du brauchst: genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, viel Sonne. Wenn du glücklich sein willst, musst du hier bleiben“, sind sie überzeugt. Überhaupt hätten die Turkana People trotz widrigster Bedingungen in der Wüste eine enorme Lebensfreude: „Da stellt man tatsächlich seinen eigenen Kulturkreis und Wertekompass ein bisschen in Frage, wenn man die Menschen hier sieht und beobachtet“, sagt Toby nachdenklich.
Neben Szenen rund um die Fischerinsel stehen noch eine Schulabschlusszeremonie mit rund 400 Kindern, einige Stunt-Szenen und eine Springflut auf dem Programm, nach über 40 Drehtagen sollte dann das Filmmaterial im Kasten sein. Zurück in Deutschland soll dann der Streifen, der in einem Mix aus Englisch und Swahili gedreht wird, im Lauf des Jahres fertiggestellt werden, bevor „Nawi“, was in der Stammessprache der Turkana „Heimat“ bedeutet und gleichzeitig der Name der Hauptfigur ist, Anfang nächsten Jahres auf den Festivals präsentiert werden soll. „Es bleibt spannend und ein großes Abenteuer für alle Beteiligten“, sind sich Kevin und Toby Schmutzler einig und versprechen, dass der Film natürlich auch in ihrer Heimatstadt Ingolstadt zu sehen sein wird.
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