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Und mittendrin ein kleines Licht
Im Jahr 2018 ertranken im zentralen Mittelmeer laut UNHCR im Schnitt täglich sechs Menschen bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren. Der Ingolstädter Michael Kraus war für die gemeinnützige Organisation Sea-Eye an zwei je dreiwöchigen Rettungsmissionen beteiligt. Im Interview erzählt der 39-jährige Notfallsanitäter, was er dort erlebt hat.
Zwei Rettungsmissionen auf dem Mittelmeer hast du begleitet. Wann war das?
Mein erster Einsatz für Sea-Eye war Ende September 2017. Ich war auf der Seefuchs als Sanitäter eingeteilt. Im Mai 2018 war ich dann das zweite Mal auf Mission.
Wie kam es dazu?
2015 und 2016 war das Ganze ja ein großes Thema, mit regelmäßigen Berichten über Bootsunglücke und tausenden Toten. Und dann hörte ich während der Arbeit einen Radio-Beitrag über Sea-Eye und den Regensburger Michael Buschheuer, der einfach ein Schiff gekauft hat, um zu helfen. Der sich gesagt hat: Wenn‘s kein anderer macht, muss ich es halt tun. Er hatte recht. Und weil ich was kann, was Sea-Eye gut brauchen konnte, nämlich Notfallmedizin, hab ich am nächsten Tag gleich beim Crewmanager angerufen.
Ich will das aber nicht so darstellen, als wäre meine ehrenamtliche Arbeit jetzt so etwas Außergewöhnliches. Ich bin auch bei Weitem nicht der Einzige aus der Region, der sich in der Seenotrettung engagiert, darauf lege ich Wert: viele Grüße zum Beispiel an Alisa, Franz, Manuel, Bert, Thais, Christoph, Eva und Max. Und viele andere setzen ihre speziellen Fähigkeiten erfolgreich an anderer Stelle ein, z.B. bei der Unterstützung von Asylbewerbern bei Behördengängen, beim Deutschlernen, bei der Job- oder Ausbildungsplatzsuche, für gemeinsame Aktivitäten. Oder in vielen Projekten, die vor Ort in Afrika helfen. Das alles zusammen ist am Ende so viel wert und bringt unsere Gesellschaft auch wirklich weiter.
Wie wird man auf eine Mission vorbereitet?
Jeder ist auf seiner Position Experte: Nautiker, Seeleute, Maschinisten, Mechaniker, Mediziner, Koch, Wasserretter etc. Man trifft sich vorab zum Crew-Training, setzt sich mit der aktuellen Lage auseinander, mit der Situation in der SAR-Zone und mit den Akteuren, mit denen man zu tun bekommen könnte. Man lernt viel über Einsatztaktik und spielt verschiedene Szenarien durch. Also z.B. was man tut, wenn Menschen ins Wasser fallen oder plötzlich Panik ausbricht.
Wie läuft ein typischer Tag ab?
Das Schiff ist für drei Wochen durchgehend auf See und rund um die Uhr in Betrieb. Das heißt im Dreischichtbetrieb: Wachdienst auf der Brücke, Arbeiten an Deck, im Maschinenraum oder der Kombüse – und dazwischen viel zu wenig Schlaf. Hinzu kommt die Seekrankheit. Die hat die ersten Tage fast alle erwischt.
Ist dir ein Einsatz besonders in Erinnerung geblieben?
Meine letzte Rettung im Mai 2018. Da haben wir mitten in der Nacht einen Anruf von der Seenotleitstelle (MRCC) erhalten – ich hatte gerade Wachdienst auf der Brücke. Etwa 4 Stunden entfernt von unserer momentanen Position sei ein „wooden boat in distress“, ein Seenotfall, gemeldet worden. Also erstmal volle Fahrt in die Nacht. Als wir in die Gegend kamen, waren alle an Bord schon in Alarmbereitschaft. Es war noch immer stockfinster, die Seefuchs machte nur ganz langsam Fahrt, um zu vermeiden, dass wir das Ziel am Ende noch rammen. Es war also gespenstisch leise, die See spiegelglatt. Die Stimmung werde ich nie vergessen. Dann tauchte ein kleines Licht vor uns auf, wurde größer. Es war eine Taschenlampe auf dem gemeldeten Holzboot. Nach Rücksprache mit dem MRCC nahmen wir die Menschen an Bord. Bei der Rettung ging alles gut. Als Ziel wurde uns der Hafen Augusta im Osten Siziliens mitgeteilt – gut zwei Tage entfernt.
Wie ist die Verfassung der Flüchtlinge, die ihr auf dem Mittelmeer aufgreift?
Die Menschen sind oft dehydriert, unterzuckert, unterkühlt und gleichzeitig von der prallen Sonne verbrannt. In den Booten sammelt sich ein ätzendes Gemisch aus Benzin, Meerwasser und menschlichen Ausscheidungen. Und darin, im Inneren, sitzen dann nicht selten die Frauen und Kinder. An Bord hört man dann die Geschichten von Vergewaltigung, Folter und Sklaverei aus Libyen und sieht die Narben – zumindest die körperlichen. Bei meinen Einsätzen hatten wir das Glück, dass wir die Leute immer rechtzeitig retten konnten. Wir hatten auch keine Toten – andere Missionen von Sea-Eye hatten da weniger Glück. Es gibt ganze Festplatten voll an grauenhaften Bildern. Da würde ich gerne mal eine Dia-Show im EU-Parlament oder im Bundestag machen.
Lässt man das während der Mission an sich ran?
Ich glaube mit Verletzung, Krankheit, ja, auch mit dem Tod, kann ich berufsbedingt gut umgehen. Wovor ich aber eine Heidenangst habe, ist, jemanden sterben zu sehen, der noch nicht sterben sollte – und nichts dagegen tun zu können. Man hat als Crewmitglied eine gute psychologische Betreuung. Aber es ist schon krass, wenn man sich bewusst wird, dass man im Hotspot der größten humanitären Katastrophe Europas nach dem Krieg unterwegs war – und wie wenig man eigentlich ausrichten konnte. Die Augen und Ohren von Marine, Frontex, Regierungen, Ministerien, Presse und Milizen waren auf dich gerichtet. Und zu Hause hast du dann nicht nur mit Wertschätzung, sondern vor allem mit Vorurteilen, Falschinformationen, Anfeindungen und – am schlimmsten – Gleichgültigkeit zu tun.
Der Film „Mission Lifeline“ zeigt Einsätze des gleichnamigen Seenotrettungsvereins. Nach jeder Rettung werden dort die Boote, mit denen die Flüchtlinge übersetzen, zerstört. Macht ihr das auch?
Ja klar, die werden in der Regel in Brand gesteckt. Es muss vermieden werden, dass die Schleuser die leeren Boote und die Motoren zurück nach Libyen bringen, um sie wieder zu verwenden. Dazu muss man aber sagen, dass es ursprünglich nicht unser Plan war, überhaupt Menschen an Bord zu nehmen. Die Sea-Eye, die Seefuchs und auch unser neues Schiff, die Alan Kurdi, sind dafür nicht ausgelegt. Plan war es immer, die Menschen in Seenot zu finden und mit Rettungswesten oder Rettungsinseln abzusichern, einen Notruf abzusetzen und sie so lange zu versorgen, bis die Seenot-Leitstelle ein großes Schiff schickt. Bis 2017 haben wir eigentlich nur Kinder, Schwangere und Verletzte vorübergehend an Bord genommen, um sie zu versorgen. Es ging nie darum jemanden zu transportieren. Aktuell ist das Problem, dass es im Seegebiet zwischen Lampedusa, Malta und Libyen schlichtweg kaum noch große Schiffe gibt, die zur Hilfe kommen könnten. Die Militärschiffe der EU-Mission Sophia sind nicht mehr da, Handelsschiffe meiden das Gebiet und die Rettungsschiffe der meisten anderen NGOs werden blockiert und in den Häfen festgehalten. Wer soll da zur Hilfe kommen? Da muss man dann halt auch Menschen an Bord nehmen, um ihr Leben zu retten.
Was empfindest du, wenn du in den Sozialen Medien liest, ihr wärt Schlepper?
Diese Unterstellung kommt ja ursprünglich aus der rechtsextremen Ecke, aus dem Umfeld der Identitären Bewegung, PEGIDA und rechter Parteien; das hat mich erstmal nicht besonders gestört. Beängstigend finde ich aber, dass sich solche Lügen bis in bürgerliche Kreise hinein verbreiten. Alle Vorwürfe, die hier gestreut wurden, z.B. dass NGOs mit Schleppern zusammenarbeiten, Lichtzeichen geben oder AIS-Tracker ausschalten, sind leicht zu widerlegen. Auch das Thema Pullfaktor, also dem Narrativ, die Hilfsschiffe würden die Flüchtenden erst zur Flucht animieren, ist längt wissenschaftlich widerlegt. Außerdem: Im Mai und Juni konnte kein einziges NGO-Schiff in der SAR-Zone sein. Man hörte trotzdem fast täglich von Flüchtlingsbooten, Rettungen durch Maltas Militär oder von Rückführungen durch die Libyer. Da muss ich schon die Frage stellen: Wie kann man da noch an der Mär vom Pullfaktor festhalten? Auch Schleuser haben Internet und wissen, dass keine Rettungsschiffe da sind. Es gibt sogar deutliche Hinweise, dass sich die von der EU finanzierte und ausgerüstete sogenannte libysche Küstenwache aus genau den gleichen Milizen rekrutiert, die sich auch als Folterknechte, Erpresser und Schleuser betätigen. Sie kassierten also als Fluchtursache, Fluchthelfer und Fluchtverhinderer gleich dreifach ab.
Lohnt sich die Diskussion in den Sozialen Medien?
Ich werde niemanden mit einem durchweg fremdenfeindlichen Weltbild überzeugen können. Aber es ist schon wichtig, dass man Falschbehauptungen, Lügen und Hetze nicht unwidersprochen stehen lässt. Da ist jeder gefordert, solche Behauptungen zu berichtigen und Gegenargumente zu bringen.
Die Grünen stellten den Antrag, Ingolstadt zum „Sicheren Hafen“ zu machen. Gute Idee?
Ich freue mich über den Antrag. Es wäre ein tolles Zeichen, wenn sich Ingolstadt der Aktion Seebrücke anschließen und sich mit den Seenotrettern solidarisieren würde – so wie 60 andere Städte in ganz Deutschland zuvor. Dass es in Ingolstadt mehr als einen einzelnen Stadtrat geben wird, der wirklich gegen so einen Antrag stimmt, sich also aktiv gegen Seenotrettung und für rechtswidrige Push-Backs in ein Bürgerkriegsland ausspricht, kann ich mir fast nicht vorstellen.
Durch ein kürzlich von der italienischen Regierung verabschiedetes Dekret drohen Hilfsorganisationen auf dem Mittelmeer hohe Strafen. Immer dann, wenn private Schiffe unerlaubt in italienische Hoheitsgewässer fahren. Hat das Auswirkungen auf eure Arbeit?
Das Seerecht sieht vor, dass die staatliche Seenotleitstelle einem Schiff, das Schiffbrüchige an Bord hat, schnellstmöglich einen sicheren Hafen zuweisen muss. Muss! Seit der Rechtsaußen Salvini in Italien Innenminister ist, und er die Parole „porti chiusi“ [geschlossene Häfen, Anm.] ausgegeben hat, ist das aber immer ein diplomatisches Gezerre zwischen den EU-Staaten. Erst wenn Salvini die Zusage hat, dass alle Flüchtlinge aus Italien in andere EU-Länder weiterverteilt werden, können die Menschen an Land. Man kennt die Berichte, dass Lifeline, Sea-Watch und auch die Sea-Eye Schiffe tagelang hingehalten wurden. Man hat die Geretteten und die Crews nicht nur unnötig strapaziert, sondern zum Teil in erhebliche Gefahr gebracht. Dass das Kabinett in Rom jetzt aktuell ein Dekret erlassen hat, dass das Einfahren in die italienischen Hoheitsgewässer mit bis zu 50.000 Euro unter Strafe stellt, soll vielleicht den Eindruck erwecken, die Rettungsschiffe würden irgendetwas Verbotenes tun, als wären sie Invasoren. Das ist aber einfach falsch.
Was hat sich seit deinem letzten Einsatz geändert?
Das MRCC in Rom fühlt sich nicht mehr verantwortlich für das betroffene Seegebiet. Mit europäischer Unterstützung wurde im Eiltempo eine eigene Seenotleistelle in Tripolis (JRCC) installiert. Die wird von der sogenannten libyschen Küstenwache betrieben und soll sich nun um sämtliche Seenotfälle auf dem tödlichsten Meeresstreifen der Welt kümmern. Die Libyer sind natürlich heillos überfordert. Es gibt zahlreiche Berichte, dass bei allen bekannten Telefonnummern dieser „Leitstelle“ meist schlichtweg niemand rangeht. Und wenn, dann wird nur arabisch gesprochen. Ruft man dann in Rom an, um Hilfe anzufordern, wird auf die Zuständigkeit des JRCC Tripolis verwiesen. Also unterm Strich: Keine Hilfe. Was bleibt einem Rettungsschiff da übrig, als die Menschen selbst an Bord zu nehmen und langsam Richtung Norden zu fahren – in der Hoffnung, doch bald einen sicheren Hafen zugewiesen zu bekommen?
Was wünschst du dir von der Politik, was von der Bevölkerung?
Ein klares Bekenntnis für die Menschenrechte! Man hat als Lehre aus den großen Katastrophen des letzten Jahrhunderts viele wichtige Regeln aufgestellt. Sie sind die Basis des jahrzehntelangen Friedens in unserem Teil der Welt und sie halten Europa zusammen. Und es kann nicht richtig sein, diese Regeln jetzt beim ersten „Stresstest“ aufzuweichen oder ganz über Bord zu werfen.
Wirst du an einer weiteren Mission teilnehmen?
Wenn nichts dazwischen kommt, fahre ich im Herbst wieder mit.
Infos und Spendenmöglichkeiten unter sea-eye.org
Zahl der Flüchtlinge und Migranten,
die in Europa über das Mittelmeer ankamen:
2018: 116.647 Menschen
2017: 172.324 Menschen
2016: 363.425 Menschen
2015: 1.015.877 Menschen
Quelle: UNHCR
Infos und Spende unter www.sea-eye.org