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Der Mann im Turm

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Der Mann im Turm

Lutz-Stipendiat Erik Wunderlich im espresso-Interview

Erik Wunderlich beim Einzug in den Flaschlturm in Pfaffenhofen | Fotos: Thomas Tomaschek/Stadt Pfaffenhofen

Seit 7 Jahren gibt es das Lutz-Stipendium der Stadt Pfaffenhofen. Benannt ist es nach dem Pfaffenhofener Schriftsteller Joseph Maria Lutz. In Anlehnung an seinen 1932 erschienenen Roman „Der Zwischenfall“ – der vom Besuch eines Dichters in einer oberbayrischen Kleinstadt und den daraus resultierenden Ereignissen handelt – verpflichten sich die Stipendiaten dazu, einen Text über Pfaffenhofen fertigzustellen. Drei Monate haben sie dazu den Flaschlturm ganz für sich und ihre literarischen Ideen. In diesem Jahr hat sich Erik Wunderlich gegen über 70 weitere Bewerber durchgesetzt. Im Interview spricht er über seinen Weg zur Literatur, seine Lieblingsorte in Pfaffenhofen und Träume als wichtige Inspirationsquelle.

Herr Wunderlich, Sie leben eigentlich in Freiburg. Wie sind Sie auf das Lutz-Stipendium in Pfaffenhofen aufmerksam geworden?

Ich informiere mich im “Federwelt”-Newsletter und auf literaturport.de über Literatur-Wettbewerbe und -Stipendien. An Pfaffenhofen hat mich u.a. angesprochen, dass die Stadt sich ernsthaft für ökologische Nachhaltigkeit einsetzt, meiner Meinung nach eine der aktuell wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben überhaupt. Auch und gerade in Zeiten von Corona.

Jeder Bewerber muss eine Textprobe einreichen. Welche haben Sie dafür ausgewählt und warum fiel ihre Wahl genau darauf?

Ich habe eine Erzählung eingereicht, die von den Folgen eines Reaktorunglücks für das Leben zweier Freunde handelt. Sie verlieren jede Verwurzelung, lassen sich schicksalsergeben von Klinik zu Klinik verlegen, immer auf der Suche nach dem Vater des einen. Meine Wahl fiel auf diesen Text, weil mehrere tiefere Themen darin liegen: Umgang mit Traumata, die Weigerung erwachsen zu werden, Passivität und Unterwerfung, Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod.

Sie wohnen jetzt 3 Monate in einem Appartement im Flaschlturm. Wie lebt und arbeitet es sich in diesem historischen Gebäude?

Wunderbar! Der Flaschlturm liegt am Rand der Altstadt, zentral und gleichzeitig ruhig. Das Lauteste, was man hört, sind die Gesänge der Amseln. Diese Ruhe ist mir fürs Schreiben wichtig, und tatsächlich komme ich hier mit meinem aktuellen Roman sehr gut voran. Es wird ein märchenhaftes Fantasy-Buch für Jugendliche und Erwachsene, über versiegendes Wasser, über einen Löwen namens “Hüter des Flusses”, über die Reise zweier Heranwachsender entlang eines Bachbetts ihrer Herkunft entgegen, und ihrem Platz in der Welt.

Als Lutz-Stipendiat schreiben Sie über einen „Zwischenfall“ in Pfaffenhofen. Wie haben Sie die Stadt in der Zeit, die Sie hier sind, kennengelernt?

Also einen Zwischenfall gab es noch nicht, jedenfalls keinen unangenehmen oder spektakulären. Ich habe mich hier trotz Corona vom ersten Tag an wohl gefühlt, obwohl ich leider viel weniger am kulturellen Leben der Stadt teilnehmen kann als in “normalen Zeiten”. Immerhin wird die Abschlusslesung am 26. Juli im Innenhof des Landratsamts stattfinden, das freut mich sehr!

Impressionen aus dem Künstler-Appartement im Flaschlturm:

Wie haben Sie die Zeit bisher in Pfaffenhofen verbracht?

Ich habe viel Zeit im Arbeitszimmer des Flaschlturms verbracht: zum Schreiben, Überarbeiten, Recherchieren, Lesungen Organisieren usw. Daneben gehe ich viel nach draußen und erkunde die Umgebung, meistens zu Fuß oder mit dem Rad. Ganz einsiedlerisch lebe ich aber nicht: Ich hatte Besuch von meiner Freundin und von meiner Familie, treffe mich soweit möglich mit “Einheimischen”, war im Kloster Scheyern oder im Wolnzacher Hopfenmuseum.

Gibt es Orte in Pfaffenhofen, die Sie besonders inspirieren? Orte, wo Sie sich am liebsten aufhalten?

Tatsächlich halte ich mich viel und gern im Flaschlturm auf, dort finde ich am besten die Ruhe und Konzentration zum Schreiben. In den Arbeitspausen sitze ich oft im kleinen Garten, wo ich mit der Walderdbeeren-Ernte kaum hinterherkomme. Außerdem bin ich viel in der Natur um Pfaffenhofen unterwegs, an der Ilm oder am Gerolsbach, in den Hügeln der Hallertau, im Wald. Ich bin auch froh, dass die Gaststätten und Cafés wieder geöffnet haben, z.B. auf dem Hauptplatz.

Verraten Sie uns, wovon Ihr Zwischenfall handeln wird?

Der Hopfen wird auf unterschiedliche Weise eine zentrale Rolle im Text spielen.

Die tieferen Ebenen dahinter kann und will ich noch nicht verraten, auf die darf der Leser oder die Leserin selbst stoßen. Es wird aber wohl eine Art Mystery-Psychothriller werden um einen Mann, der in eine Hallertauer Kleinstadt kommt, um nach einem Verschollenen zu suchen. Und um dem Hopfen seine Geheimnisse zu entlocken, heilsame wie zerstörerische.

Sie haben Physik in Karlsruhe und Psychologie in Berlin studiert. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen? Und die obligatorische Frage: Können Sie vom Schreiben leben?

Ich habe schon als Kind eine Leidenschaft für die Kunst entwickelt, die während meiner Schulzeit verschüttet gegangen ist. Später habe ich dann v.a. übers Lesen und Musikhören wieder einen Zugang dazu bekommen. Mit Mitte 20 hatte ich beim Liederschreiben meinen persönlichen künstlerischen Durchbruch: Ich war auf eine Quelle gestoßen, aus der es seitdem sprudelt. Nach und nach habe ich mich von der Musik auf die Literatur verlagert. Leben kann ich davon noch nicht, ab August werde ich wieder in Freiburg als Vermessungs-Assistent arbeiten. Ein toller Job, der sich gut mit dem Schreiben vereinbaren lässt.

Welche Bedeutung hat Literatur für Sie?

Die Literatur kann so vieles, obwohl – oder weil – sie aus nichts als Wörtern besteht. Sie ist die vielleicht minimalistischste Kunstform. Nur anhand schwarzer Symbole auf weißem Papier kann sie die farbigsten Welten entstehen lassen, schwer greifbare Stimmungen, Assoziationen, Abgründe heraufbeschwören. Und das meiste davon wird, im Gegensatz etwa zum Film, erst beim Lesen zu Bildern im Kopf. Oft gerade durch das nur Angedeutete, ungesagt Mitschwingende.

Worüber schreiben Sie am liebsten?

Ich habe eine Vorliebe für das Traumartige, Archetypische, Metaphorische, für alles, was über rein rationale Logik hinausgeht. Das kann sich in Texten als magisches Element zeigen, oder auch ganz subtil in einer latent surrealen Stimmung. Außerdem ist es mir wichtig, zeitlose, gesellschaftlich relevante Themen zu behandeln, wie Identität oder das Verhältnis Mensch–Natur. Dabei will ich nicht anmaßend pädagogisch schreiben, aber trotzdem auf Missstände hinweisen – allen voran auf das Überlegenheitsgefühl des Menschen gegenüber nicht-menschlichem Leben. Auch mögliche Alternativen zu dieser verheerenden Sichtweise will ich immer im Blick halten.

Drei Bücher, die Sie besonders geprägt haben und warum?

Aus der Fülle großartiger Bücher drei herausgreifen zu wollen grenzt an Übermut. Aber ich versuch’s:

  • Marlen Haushofer – Die Wand. Trotz des surrealen Elements der unsichtbaren Trennwand zwischen einer Frau und der Zivilisation hochrealistisch, was die Beschreibung ihres (Über-)Lebens in der Natur angeht. Ihre Beziehungen zu Katze, Hund und Kuh werden unglaublich einfühlsam beschrieben.
  • Imre Kertész – Roman eines Schicksallosen. Die ebenso schonungs- wie urteilslose Sicht eines Heranwachsenden auf den Holocaust, auf seine eigene Deportation und sein Leben im KZ. Erschüttert gerade durch seinen nüchternen, fast naiv wirkenden Berichtston.
  • Michael Ende – Die unendliche Geschichte. Der Autor schafft es, die Grenzen zwischen sogenannter “Kinder”-, “Genre”- und “hoher” Literatur hinwegzuzaubern. “Tu, was du willst!”

Wovon lassen Sie sich inspirieren? Wann sind Sie am kreativsten?

Viele Ideen habe ich aus Träumen. Sie haben für mich etwas Wahrhaftiges, weil man träumend oft einen besseren Kontakt zum Unterbewussten, Ursprünglichen hat als im Wachzustand. Ich versuche aber Träume nicht einfach eins zu eins auf Papier zu bringen – was sowieso nicht möglich ist –, sondern nehme Stimmungen, Bilder oder Sequenzen als Ausgangspunkte zum Schreiben. Auch draußen in der Natur schöpfe ich Inspiration, und aus Begegnungen aller Art, u.a. mit längst Verstorbenen: über die Bücher, die sie geschrieben haben.

Worauf freuen Sie sich in diesem Jahr noch am meisten?

Hm – auf die Abwahl von Donald Trump? Aber erstmal auf den Sommer.

Herr Wunderlich, vielen Dank für das Gespräch

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