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"Die Entfernung lässt einen erkennen, wie gut man es dort hat"
Sabine Arz lebte 10 Jahre auf der Osterinsel. Im espresso-Interview gibt sie einen spannenden Einblick über ihre Zeit am anderen Ende der Welt und erklärt, warum der Inselkoller dem Pandemiekoller gar nicht so unähnlich ist.
24 km lang und 13 km breit ist die Osterinsel. Das nächstgelegene bewohnte Eiland ist über 2.000 Kilometer entfernt. Begrenzter und abgelegener kann man kaum leben. Wäre das etwas für Sie?
Sabine Arz
Frau Arz, nach Ihrem Studium sind Sie auf ein Trainee-Programm auf der Osterinsel gestoßen. Eigentlich wollten Sie nur ein Jahr bleiben, daraus wurden dann allerdings 10 Jahre. Fiel es Ihnen nicht schwer, in Deutschland alle Zelte abzubrechen?
Es gab kaum Zelte zum Abbrechen – ich hatte fertig studiert und mir noch keine großartigen Anschaffungen, Häuser oder Autos zugelegt, was das Materielle angeht. Ich hatte auch keinen Freund und machte ein komplett unbefriedigendes, unterirdisch bezahltes Praktikum in München. Ich war nach dem Abitur ein Jahr in Australien und während des Studiums einige Monate in Barcelona und Peru – für mich fühlte es sich daher nicht wie „Zelte abbrechen“ an, da ich ja nur ein Jahr plante.
Was sagten Ihre Freunde?
Meine damals wie heute sehr gute Freundin Anne musste weinen, als es losging. Ich war total verwundert, da wir beide schon Auslandsaufenthalte hinter uns hatten. Ich fragte sie: „Warum weinst du denn? Ich komm doch wieder!“ und sie antwortete: „Ja, das glaube ich eben nicht, dass du wiederkommst.“ Sie sollte recht behalten, zumindest für die nächsten 10 Jahre.
Hatten Sie einen Kulturschock auf der Osterinsel?
Ich war schon irgendwie kulturgeschockt als ich ankam. Aber ich hatte Kulturstudien studiert, und war ja auch davor schon im Ausland für längere Zeit – ich wusste also noch vage, dass es auf- und abgeht mit den Gefühlen. Die Insel ist sehr klein und man fällt auf, wenn man neu ist. Damals lebten dort nur etwa 5.000 Menschen.
Die Chilenen sind quasi die
Bayern Südamerikas
Was hat Ihnen die Eingewöhnung erleichtert bzw. erschwert?
Erleichtert hat mir die Eingewöhnung, als ich anfing in den Sportverein zu gehen – ich hatte auch in Deutschland Handball gespielt und wusste, dass man da immer Anschluss findet. So war es auch, ich ging zum Volleyball, Basketball und zum Tanzen, zum Ori Rapa Nui. Außerdem kaufte ich mir einen Roller, so konnte ich einfach die 20 km quer durch die Insel an den Strand fahren – es gibt keine öffentlichen Verkehrmittel und daher war der Roller für mich Freiheit. Erschwert haben mir die Eingewöhnung anfangs sicherlich meine grottenschlechten Spanischkenntnisse. In Peru war ich damit sehr gut durchgekommen, die Peruaner sprechen sehr langsam und deutlich, aber die Chilenen sind quasi die Bayern Südamerikas – wer von außerhalb kommt, der versteht den Slang oft nicht, und sie sprechen sehr schnell.
Wie würden Sie Ihren Lebensalltag auf der Insel beschreiben?
Ich habe dort als Tourguide gearbeitet und hatte sehr tolle Kollegen – die auch zu Freunden wurden. An einem idealen Tag sind wir am Ende der Tour in Anakena am Strand ins Meer gesprungen, um uns zu erfrischen. Vom Trinkgeld haben wir uns Bier und Fleisch gekauft, während die anderen Feuer machten und haben anschließend gegrillt. Manchmal haben wir das sogar schon in der Mittagpause getan, unser Fahrer und Freund Pika hat dann das Fleisch zubereitet, während wir mit den Touristen den Rano Raraku Krater besichtigt haben.
Und an einem schlechten Tag?
Eine Tour mit 100% strömendem Regen, irgendwann waren dann auch meine Regenhosen und Regencapes durchgeweicht. Ein typischer Rapa Nui Spruch ist: Hier regnet es nicht von oben, sondern von der Seite und sogar von unten. Das sagt man wegen des starken Windes. Es kam schon vor, dass man das Wasser aus den Gummistiefeln schütten konnte. Zuhause konnte man dann auch nur noch DVDs schauen. Blöd war natürlich, dass es keine Heizung gab, im Winter ist es dann klamm und feucht.
Kleine Insel, große Hölle
– beliebter Spruch auf der OsterinselIn einem Zeitungsartikel sagten Sie, dass fast jeder, der länger auf der Insel lebt, einen Inselkoller bekommt. Gilt das nur für Auswärtige oder auch für Einheimische?
Ich glaube schon, dass das auch die Einheimischen betrifft. Es gibt dort noch einen bekannten Spruch, der das verdeutlicht: kleine Insel, große Hölle. Es wird nämlich auch viel getratscht und es gibt keine Möglichkeit, sich zu zerstreuen. Aktuell sind wir ja in einer ganz ähnlichen Situation. Wir haben kein Kino mehr, keine Konzerte… Pandemiekoller, statt Inselkoller. Außerdem ist es sehr teuer, die Insel zu verlassen, das können sich viele nicht oft leisten. Fast jeder fällt auf der Insel mal in ein kleines Tief.
Was haben Sie gegen Ihren Inselkoller getan?
Man muss etwas tun, was einem gut tut. In meinem Fall: Tanzen, Trainieren, Menschen treffen oder Pizza backen. Es gab keine gute Pizzeria, deswegen haben wir das mit Freunden selbst gemacht. Ich habe auch einen deutschsprachigen Stammtisch gegründet, die WhatsApp-Gruppe dazu gibt es immer noch (lacht). Idealerweise würde man genug Geld verdienen, um die Insel zweimal jährlich zu verlassen. Die Entfernung lässt einen dann wieder erkennen, wie gut man es dort hat.
In Deutschland kann man sich so gut wie jedes Produkt innerhalb weniger Tage vor die Haustüre liefern lassen. Auf einer so isoliert gelegenen Insel muss man gezwungenermaßen mit sehr viel weniger auskommen. Fluch oder Segen?
Beides würde ich sagen. Dadurch, dass nicht so viel angeboten wird, hat man wahrscheinlich automatisch weniger Bedürfnisse. Als ich zurück nach Deutschland kam und meine Wohnung eingerichtet habe, war ich äußerst glücklich, wie erschwinglich bei uns alles ist. Auf der Osterinsel habe ich mir ein Sofa gekauft, das wurde einen Monat später mit dem Flugzeug geliefert. Es kostete umgerechnet 500 Euro und der Transport nochmal 300. Wenn ich hier in Deutschland Lebensmittel einkaufe, bin ich immer noch überrascht, wie günstig das alles ist. Oft stand ich kurz davor, ein Foto vom Wocheneinkauf zu machen und meinen Freund*innen auf der Insel zu schicken, aber dann lasse ich es, denn ich habe Angst, dass sie in Tränen ausbrechen müssen.
Auf der Insel geht man in den Supermarkt und schaut, was es gibt – dann kocht man, was möglich ist.
Hat sich das durch Corona verschärft?
Dadurch ist es noch schlimmer. Die Osterinsel ist corona-frei und komplett auf sich alleine gestellt – fast jeder arbeitet in irgendeiner Weise im Tourismus und viele haben nun gar kein Einkommen mehr. Normalerweise kommt 2x am Tag ein Flugzeug, jetzt kommt 1x im Monat ein von den Händlern gechartertes. Die schlagen 2-4 Euro pro Kilo auf. Mittlerweile kostet ein Kilo Zwiebeln, Kartoffeln oder Tomaten 4-5 Euro. Kürzlich habe ich gelesen, dass es keinen Zucker zu kaufen gibt. Eine Freundin hat mir geschrieben, dass es kein Bier mehr auf der Insel gibt und Öl hat sie auch keines gefunden.
Auf der Osterinsel tanzt jeder sehr leicht
bekleidet während des
Tapati Festivals
– beliebter Spruch auf der Osterinsel
Welche Rolle spielen die berühmten Steinskulpturen für die Bevölkerung heutzutage noch?
Die Moai repräsentieren die Ahnen – ganz kurz zusammengefasst. Die Rapa Nui, also die Einheimischen, sind sich sowohl ihres materiellen als auch sentimentalen Wertes bewusst und schützen ihren Nationalpark. Außerdem sind die Statuen allgegenwärtig, die Kinder wachsen damit auf. Auf der Osterinsel malen sie ein Haus, einen Baum und einen Moai. Wer mehr über das Leben auf der Insel und die Moai erfahren möchte, kann zu meinem VHS-Diavortrag an der VHS im Herbst kommen: für den 30.09.2021 habe ich einen Vortrag mit dem Titel „Geheimnisvolle Osterinsel“ angemeldet.
Nach 10 Jahren auf der Osterinsel kehrten Sie zurück nach Deutschland. Warum?
Ich habe auf der Osterinsel nicht nur gearbeitet und getanzt, sondern mich auch verliebt und habe einen 8-jährigen Sohn. Hier in Deutschland haben wir einfach eine sehr viel bessere medizinische Versorgung, eine sehr viel bessere Schulbildung, unsere Erzieher*innen und Lehrer*innen leisten eine unglaubliche Arbeit, wenn ich das mit der Osterinsel vergleiche. Auf der Insel hat z.B. jeder Kindergarten einen Fernseher und man schaut dort mindestens einmal täglich etwas an.
Mussten Sie sich erst wieder an den Alltag in Deutschland gewöhnen?
Klar hatten wir beide Probleme uns hier einzugewöhnen. Man trennt auf der Insel den Müll nicht so intensiv wie hier, das musste ich quasi erst wieder lernen (lacht). Auf der Osterinsel wird Wildsein, zumindest im Kleinkindalter, nicht negativ bewertet oder sanktioniert, eher im Gegenteil. Und wenn die Kinder auf der Insel nicht teilen wollen, kann es schon passieren, dass deren Mutter ihnen das Spielzeug oder die Süßigkeiten wegnimmt und die anderen Kinder es geschenkt bekommen – das ist dann das andere Extrem. Auch Teilen ist in Deutschland nicht so stark verankert, vor allem wenn‘s ums Essen geht. Mein Sohn hat manchmal einfach den Kindern meiner Freundin ungefragt in die Pommes gegriffen – das war schon ein Kulturschock für ihn, dass das auf einmal nicht mehr geht.
Wo gibt es noch Unterschiede zwischen Deutschland und der Osterinsel?
Was mir persönlich besonders auffiel, ist das Thema Bodypositivity. Auf der Osterinsel tanzt jeder sehr leicht bekleidet während des Tapati Festivals, egal ob jung oder alt, ob dick oder dünn, auch in der ersten Reihe. Es geht um den Tanz, nicht um den Körper. Ich kann mich an eine Tapati erinnern, da tanzten zu einem Lied gerade die fülligsten Frauen in der ersten Reihe, das sah richtig gut aus. Da würde ich mir in Deutschland ein bisschen mehr Diversität wünschen. Besonders schön war der erste Winter mit Fußbodenheizung. Auf der Insel haben die Häuser wie gesagt keine Heizung. Bei nächtlichen Temperaturen von 10 Grad im Winter und der hohen Luftfeuchtigkeit fühlt es sich richtig eisig an. In der eigenen Wohnung zu frieren und dadurch nachts nicht schlafen zu können, ist echt schlimm.
In der VHS geben Sie einen Workshop für einen Tanz der Osterinsel – den sogenannten Ori Rapa Nui. Was macht diesen Tanz aus?
Beim Ori Rapa Nui geht es meiner Meinung nach vor allem um den Gesichtsausdruck – man sollte dabei lächeln, besser gesagt strahlend lächeln – das wirkt für mich wie eine Therapie. Auch wenn es anfangs gekünstelt ist, irgendwann muss man tatsächlich lächeln. Das macht glücklich. Die fließenden weichen Bewegungen der Arme und Hände erzählen die Lieder, der Hüftschwung ist sexy und es macht einfach Spaß. Wichtiger als eine perfekte Performance war immer das Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe zu tanzen, zu lachen und Spaß zu haben, der Zusammenhalt. Bevor wir auf die Bühne gingen, hieß es immer: „Ok, lächelt und habt Spaß dabei, falls man sich vertanzt oder beim Hüfttuch der Knoten aufgeht, einfach weitermachen und lächeln.“
Im Kurs wird zum Lied „i papa tu’u pei“ getanzt. Welche Geschichte erzählt dieses Lied?
‚Papa tu’u pei‘ – ohne das „i“ am Anfang – ist ein Ort an der Nordküste. Es ist ein Liebeslied, in dem eine schöne Frau besungen wird. Wir werden das im Kurs Zeile für Zeile durchgehen, weil wir dazu auch Handbewegungen machen und dann fällt es leichter, sich das zu merken. Der Kurs ist sogar schon ausgebucht und wir haben einen Zusatztermin am 9. Mai eingestellt.
Würden Sie wieder zurück auf die Osterinsel ziehen – oder in eine andere Region auf der Welt?
Jetzt, wo ich mich wieder so viel mit dem Thema beschäftige, habe ich schon Fernweh. Das liegt vermutlich auch daran, dass man aktuell gar nirgends hin kann. Wieder auswandern würde ich aber erstmal nicht. Gerade mit kleinen Kindern ist es hier besser. Wenn ich irgendwann wieder komplett frei mit meinen Entscheidungen wäre, könnte ich mir schon vorstellen, wieder woanders zu leben. Ideal wäre ja, den deutschen Sommer in Deutschland und den deutschen Winter auf der Osterinsel zu verbringen – dann ist dort Sommer (lacht).
Frau Arz, vielen Dank für das Gespräch.
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