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„Ich durfte am eigenen Körper die heilsame Kraft der Achtsamkeit erfahren“
Dieses Wort hat jeder schon einmal gehört: Achtsamkeit… doch was ist das eigentlich genau, was können wir durch mehr Achtsamkeit erreichen und wie schaffen wir es, zu einem achtsameren Menschen zu werden? Wir haben bei Katrin Munzel nachgefragt. Sie ist Achtsamkeitslehrerin aus Ingolstadt und beschäftigt sich täglich intensiv mit dem Thema.
Katrin, was ist Achtsamkeit eigentlich genau und woher stammt dieses Konzept?
Achtsamkeit in Worte zu fassen ist nicht so einfach, da es für mich eine Haltung ist, die sich vor allem dann entfaltet, wenn wir sie spüren und selbst erfahren. Deshalb würde ich Achtsamkeit auch nicht als Konzept beschreiben, sondern als einen Weg, so bewusst, offen und freundlich wie möglich durchs Leben zu gehen. Dabei unser Leben wirklich bewusst zu leben, mit dem Fluss des Lebens mitzufließen und mehr Klarheit darüber zu bekommen, was jetzt gerade wirklich wichtig ist.
Der Begriff der Achtsamkeit, wie er uns heute oft begegnet und der auch zahlreichen wissenschaftlichen Studien zugrunde liegt, geht vor allem auf Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn zurück: „Achtsamkeit bedeutet, auf liebevolle und weise Art aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und nicht wertend.“ Achtsamkeit ist also nichts, das wir neu erlernen müssten, sondern eine Form der Aufmerksamkeit, die wir wie einen Samen schon immer in uns tragen und den wir durch regelmäßige Übung wieder zum Blühen bringen können.
Wie bist du selbst auf das Thema Achtsamkeit aufmerksam geworden und warum hast du es zu einem wichtigen Teil deines Lebens gemacht?
Mein Achtsamkeitsweg begann 2016 mit einem Unfall am Tag vor Heiligabend. Trotz mehrfacher Warnungen meines Mannes bin ich auf dem Weg zum Auto auf Glatteis ausgerutscht und habe mir die Schulter gebrochen. Eine Verletzung, die mit mehreren Operationen und sehr starken Schmerzen verbunden war und lange brauchte, um zu heilen. In dieser Zeit machte mich eine Freundin auf Achtsamkeit aufmerksam. Sie hatte selbst einen Achtsamkeitskurs gemacht und war der Meinung, dass mir das helfen könnte. Und so habe ich erst an einem Achtsamkeitskurs in der Arbeit teilgenommen und danach noch einen achtwöchigen MBSR-Kurs (Stressbewältigung durch Achtsamkeit) besucht. Die Erfahrungen aus den Kursen haben mich zutiefst berührt und ich durfte am eigenen Körper die heilsame Kraft der Achtsamkeit erfahren. Mir war damals sofort klar: Das möchte ich auch an andere weitergeben! Wenn man so will, ist aus einer sehr schwierigen Situation etwas sehr Wertvolles und Bereicherndes entstanden – ein Herzensweg. Seitdem vergeht kein Tag, an dem mich Achtsamkeit nicht begleitet und in diesem Jahr habe ich meine Ausbildung zur Achtsamkeits- und MBSR-Lehrerin abgeschlossen.
Was kann man deiner Erfahrung nach durch Achtsamkeit erreichen?
Es hört sich vielleicht ungewöhnlich an, doch am besten ist es, nichts erreichen zu wollen und sich überraschen zu lassen, was passiert. Sich also in gewisser Weise von den Erwartungen zu lösen, dass sich schnelle Erfolge einstellen und Achtsamkeit alles reparieren kann. Wenn wir uns wirklich auf Achtsamkeit einlassen und sie ganz in unser Leben einladen, dann kann sie jedoch eine überaus transformierende Wirkung haben. Wissenschaftliche Studien zeigen beispielsweise, dass sich Achtsamkeit auf vielfältige Art und Weise positiv auf die Gesundheit und das Wohlbefinden auswirken kann. Durch einen besseren und gesünderen Umgang mit Stress und herausfordernden Situationen und Emotionen, verbessern sich körperliche Symptome anhaltend. Unter anderem sinkt der Blutdruck und das Immunsystem wird gestärkt. Auch psychische Symptome lassen nach und es wird mehr innere Ruhe wahrgenommen. Regelmäßige Übung führt sogar dazu, dass sich Teile unseres Gehirns verändern und beispielsweise das Angstzentrum kleiner wird. Außerdem berichten Teilnehmer*innen von mehr Energie, Entspannung und Lebensfreude in ihrem Leben.
Ich denke, dass es eine allgemeine Sehnsucht der Menschen nach Sinn, Frieden und Ruhe gibt
ZUR PERSON
Wie hat Achtsamkeit dich persönlich und dein Leben verändert?
Achtsamkeit ist ein Lebensweg geworden, der mein Leben sehr grundlegend und auf vielfältige Art und Weise verändert, bereichert, gelassener und lebendiger gemacht hat. Sei es, dass ich mehr im Jetzt lebe und die vielen Momente, die mein Leben ausmachen, ganz bewusst erleben kann. Oder dass ich nicht mehr so viele Dinge gleichzeitig mache und den Menschen, die mir begegnen, meine volle Aufmerksamkeit schenke. Durch die Achtsamkeitspraxis habe ich auch bemerkt, wie sehr negative Gedanken das körperliche Wohlbefinden und die Gefühle beeinflussen und einen Weg gefunden, wie ich diese negativen Gedankenspiralen stoppen kann. Dabei unterstützt mich sehr die regelmäßige Meditation und Zeiten der Stille. Ein Zitat hat mich dabei von Anfang an begleitet: „Du kannst die Wellen des Lebens nicht aufhalten, aber Du kannst Lernen, auf ihnen zu surfen.“ Heute kann ich mit den Aufs und Abs meines Lebens besser und gesünder umgehen und mir selbst und dem, was mir begegnet mehr Akzeptanz und Mitgefühl entgegen bringen. Wir können ja oft nicht beeinflussen, was uns passiert, doch wir können bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, wie wir darauf reagieren.
Achtsamkeit macht es möglich, zu spüren, wenn ich angespannt und gestresst bin und meine automatischen Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen. Sobald ich das bemerke, habe ich die Möglichkeit, erst einmal innezuhalten und eine Pause zu machen. Zu spüren und beobachten, was jetzt gerade vor sich geht und und nicht sofort aus automatischen Denk- und Verhaltensmustern heraus zu reagieren, die oft noch mehr Stress auslösen. Dieses Innehalten ist sehr wertvoll, weil es mehr Gelassenheit im Umgang mit schwierigen Situationen schenkt, und ich bewusst entscheiden kann, wie ich mich verhalten möchte, anstatt automatisch zu reagieren.
Achtsamkeit wirkt sich dadurch auch auf die Menschen aus, die uns begegnen. Meine Tochter sagte im ersten Lockdown zu mir: „Mama, weißt du, was ich am meisten an dir liebe? Dass du das mit der Achtsamkeit machst.“ Achtsamkeit ist ein Lebensweg für mich, eine Einladung mich mehr und mehr anzunehmen, mitfühlendere und weisere Antworten auf die Herausforderungen des Lebens zu finden, auch den Mut zu haben etwas zu verändern und immer wieder regelmäßige Praxis.
Kannst du uns beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn man sich in einem achtsamen Zustand befindet?
Wenn wir achtsam sind, wissen wir, was wir tun, wenn wir es tun. Wir sind also mit unserer Aufmerksamkeit ganz im gegenwärtigen Moment ohne etwas anders haben zu wollen. Sehr häufig ist es nämlich so, dass wir in Gedanken mit Erinnerungen an Vergangenes oder mit Planen und Zukünftigem beschäftigt sind. Das führt dazu, dass wir die vielen kleinen, wertvollen Momente aus denen unser Leben besteht, regelrecht verpassen. Dazu gibt es auch eine interessante Studie der Harvard University von Killingsworth/Gilbert (2010). Die Wissenschaftler haben eine große Anzahl von Menschen mithilfe von iPhones zu zufälligen Momenten am Tag befragt, wo sie gerade mit ihren Gedanken, mit ihrer Aufmerksamkeit sind. Das Ergebnis der Studie ist: zu fast 50 % der Zeit waren die Menschen mit Ihrer Aufmerksamkeit nicht im Hier und Jetzt. Danach wurden die Menschen gefragt, wie glücklich sie jetzt gerade sind. Das Erstaunliche war: im Schnitt waren die Menschen glücklicher, wenn sie mit ihren Gedanken im Hier und Jetzt waren und zwar auch, wenn es unangenehme Tätigkeiten waren. Achtsamkeit kann also durchaus dazu führen, dass wir uns glücklicher fühlen.
Welche Übungen kann jeder ganz einfach mal ausprobieren?
Das Wunderbare an der Achtsamkeit ist, dass wir unser ganzes Leben zu einer Achtsamkeitspraxis machen können. Sie können also üben, ganz bewusst zu duschen, Ihren Kaffee ohne Ablenkung zu trinken oder auch den Weg zum Auto bewusst zu gehen. Die Aufmerksamkeit dabei immer wieder auf die Sinne zu richten und neugierig zu spüren, wie der Körper sich jetzt gerade dabei anfühlt. Wie fühlt es sich an, wenn ich die Tasse mit heißem Kaffee oder Tee in den Händen halten? Was kann ich riechen? Welche Farben und Formen kann ich wahrnehmen? Wie schmeckt der Kaffee? Wie hört es sich an, wenn ich den Kaffee schlucke? Wer und was hat dazu beigetragen, dass dieser Kaffee jetzt in unserer Tasse ist? Hier empfiehlt es sich, eine alltägliche Sache auszuwählen, die Sie regelmäßig ganz bewusst achtsam ausführen.
Eine andere sehr hilfreiche Übung ist das Innehalten. Hierfür können Sie stehen bleiben oder sich auch hinsetzen, die Augen geöffnet lassen oder sanft schließen. Dann die Aufmerksamkeit zum Körper bringen und die Füße am Boden spüren. Im ersten Schritt wahrnehmen, welche Gedanken Ihnen durch den Kopf gehen. Im zweiten Schritt beobachten, welche Gefühle und Stimmungen gerade da sind und danach, welche Körperempfindungen Sie spüren können. Im nächsten Schritt die Aufmerksamkeit beim Atem sammeln und das Ein- und Ausströmen des Atems im Körper spürend wahrnehmen. Wenn Gedanken oder Bewertungen auftauchen, diese Bewertungen registrieren und dann die Aufmerksamkeit wieder freundlich und ruhig zum Atem zurückbringen. Nach sechs bis acht Atemzügen die Aufmerksamkeit wieder weiter werden lassen und überlegen, was jetzt wichtig ist, um weiter zu gehen. Diese Pause vom Tun hilft uns, klarer zu sehen, was gerade wirklich wichtig ist und uns Raum für unsere Entscheidungen zu geben. Manchmal kann das auch ganz kurz sein, indem wir die Aufmerksamkeit zu unseren Füßen bringen und einige tiefere Atemzüge nehmen, um mehr Ruhe einzuladen. Um tiefer in die Achtsamkeit einzutauchen und damit sich die Wirkung auch wirklich entfalten kann, ist es auf jeden Fall hilfreich, mit einem*r erfahrenen Lehrer*in zu üben.
Das Wunderbare an der Achtsamkeit ist, dass wir unser ganzes Leben zu einer Achtsamkeitspraxis machen können
Wie baust du die Achtsamkeit in deinen Alltag ein und wie viel Zeit nimmst du dir dafür?
Jeder Moment ist in meinem Leben ist eine Einladung, ihn aufmerksam und bewusst wahrzunehmen. Das Leben ist sozusagen meine Achtsamkeitspraxis. Von daher braucht es dafür gar nicht mehr Zeit, weil es einfach darum geht, das Leben in jedem Moment so wahrzunehmen und alles so sein zu lassen, wie es gerade ist. Das kann manchmal sehr herausfordernd sein und da ist es dann wichtig, mit mir selbst mitfühlend und freundlich umzugehen. Mir selbst eine gute Freundin zu sein. Das musste ich auch erst einmal lernen und es erfordert viel Geduld, Akzeptanz und auch Vertrauen.
Gleichzeitig ist es so – wie beim Klavierspielen oder auch beim Sport, dass Achtsamkeit regelmäßig trainiert werden muss, damit der Achtsamkeitsmuskel gestärkt wird. Deshalb ist es sehr wichtig, regelmäßig auch für eine längere Zeit Achtsamkeit zu üben. Hier gibt es unterschiedliche Möglichkeiten wie z.B. achtsame Körperübungen, Körperwahrnehmung (Bodyscan) oder Achtsamkeitstmeditation. Auch diese Übungen mache ich sehr regelmäßig – je nachdem mal 15 Minuten und mal 45 Minuten am Tag.
Welche Menschen nehmen an deinen Kursen teil und was lernen sie bei dir?
In meinen Kurs kommen unterschiedlichste Menschen aus verschiedensten Gründen. Die einen suchen einen Weg, um mit den Anforderungen und stressigen Situationen ihres Lebens besser klar zu kommen. Dann gibt es Menschen, die vielleicht mit Schlafproblemen, Schmerzen oder anderen Erkrankungen zu kämpfen haben. Wieder andere möchten vorbeugen und etwas für die Stärkung ihrer Gesundheit und Widerstandskraft tun. MBSR steht für Mindfulness Based Stress Reduction und bedeutet übersetzt so viel wie Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Es ist ein achtwöchiges Übungsgprogramm, das 1979 von Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn entwickelt wurde und seitdem weltweit erfolgreich in verschiedensten Bereichen eingesetzt wird. Das Besondere an MBSR ist, dass es jahrtausendealte meditative Übungen mit modernen Erkenntnissen aus Psychologie, Neurowisssenschaften und Stressforschung verbindet. MBSR lehrt uns, inmitten unseres Alltags innezuhalten, Kraft zu schöpfen und den Anforderungen unseres Lebens mit mehr Klarheit, Freundlichkeit und Akzeptanz zu begegnen.
Ich sage den Menschen, die in den Kurs kommen, dass wir in den acht Wochen verschiedene Türen kennenlernen. Der Kurs ist eine Einladung, zu experimentieren und sich überraschen zu lassen, was passiert. Was jede*r dann lernt, ist dabei sehr individuell und hängt auch davon ab, wie viel Zeit sich die Teilnehmer*innen zum Üben nehmen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch betonen, dass MBSR- und Achtsamkeitskurse keine Therapie oder medizinische Behandlungen ersetzen, jedoch durchaus eine sinnvolle Ergänzung sein können, wenn dies in Rücksprache mit den behandelnden Ärzt*innen/Therapeut*innen erfolgt.
Achtsamkeit ist ein weltweiter Trend. Woran liegt das deiner Meinung nach?
Das Leben vieler Menschen ist sehr schnell und unberechenbar geworden. E-Mail, Smartphones, Social Media, Klimakrise, Flutkatastrophe, Pandemie – vieles trägt dazu bei, dass wir nahezu atemlos und pausenlos durch unser Leben hetzen. Wir sind zwar weltweit vernetzt, doch gleichzeitig fühlen sich immer mehr Menschen einsam. Zudem schätzt die WHO, dass stressbedingt psychische Erkrankungen bald noch weiter verbreitet sein werden und Erkrankungen in diesem Zusammenhang stetig zunehmen. Ich denke, dass es eine Sehnsucht der Menschen nach Sinn, Frieden und Ruhe gibt. Dass die Menschen nach Möglichkeiten suchen, mit den Herausforderungen des Lebens auf eine heilsame Art und Weise umzugehen. Achtsamkeit ist ein Weg, der bei vielen diese Sehnsucht anspricht.
Die (Vor-)Weihnachtszeit sollte im besten Fall eine besinnliche Zeit sein, häufig ist sie jedoch genau das Gegenteil. Hast du ein paar Ratschläge, wie wir möglichst achtsam und entspannt durch diese Zeit gehen können?
Bei meinem Unfall vor fünf Jahren ging es mir genauso. Ich war völlig gestresst und abgehetzt, weil die Geschenke noch nicht eingepackt waren, die Weihnachtseinkäufe noch nicht erledigt und ich noch zur Arbeit musste. Dennoch ist das mit den Ratschlägen so eine Sache, denn es ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, was als stressig wahrgenommen wird. Ein erster Schritt kann deshalb sein, uns darüber klar zu werden, was bei uns Stress auslöst: Warum ist es so, dass die (Vor-)Weihnachtszeit so stressig ist? Was genau macht mir Stress? Wenn wir unsere Stressauslöser erst einmal kennen, haben wir auch die Möglichkeit, darauf anders zu reagieren.
Dann ganz bewusst Pausen machen und Innehalten von all dem Tun und Planen. Uns überlegen: Was brauche ich wirklich? Was ist jetzt hilfreich? Was wäre der freundlichste Schritt, um jetzt weiter zu machen? Hier hilft mir auch eine To-Be- Liste als Gegenstück zu den To-Do’s. Auf der Liste steht, was ich sein lassen kann, wie ich sein möchte und was mir wirklich hilft, um zur Ruhe zu kommen. Das sind Zeiten, die ich mir für Achtsamkeitsmeditation nehme und auch ganz kleine Sachen, wie in Ruhe Kaffee trinken, ein inspirierendes Buch lesen, einen Genussspaziergang machen oder auch einmal etwas Neues auszuprobieren. Hier wirklich auf die Suche gehen, was uns wirklich zur Ruhe kommen lässt und uns in herausfordernden Zeiten unterstützt.
Zudem habe meine To Do’s vor Weihnachten deutlich entschlackt und mir bewusst weniger vorgenommen. Dabei verzichte ich so gut es geht auf Multitasking und versuche, eine Sache nach der anderen zu machen und auch meinen Mann in die Weihnachtsplanung mit einzubinden. Und im Zweifel: weniger tun und mehr sein lassen.
Katrin, vielen Dank für das Gespräch.
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